SATT STATT STARK

SATT STATT STARK Sozialkritik & Dekadenztexte

Sozial- und gesellschaftskritische Essays, eine zeitkritische Auseinandersetzung mit dem Appell an Reaktivierung von Herz und Verstand. I ...

NORMALE MENSCHEN


Petra M. Jansen: “Normale Menschen”

Petra M. Jansen „People“ Gesellschaft & Leute
Fragen an Petra M. Jansen: „Normale Menschen“, im Interview mit Pierre Mathias

François Hollande sagt, dass er trotz seines Amts ein normaler Mensch bleiben will. Aus deiner Sicht: was kann das bedeuten?

Monsieur Normal, wie er schon in der Presse genannt wird, sagte es selbst und ich zitiere ihn einfach: “Ich werde weiter mit dem Zug fahren und für meine Familie einkaufen, wenn der Kühlschrank leer ist.“ Und doch ist bereits seine politische Position mehr als normal. Dieser Satz ist bewusst volksnah eingesetzt, es macht ihn zum Menschen wie „du und ich.“

Fühlst du dich "normal" und wenn ja, könntest du das beschreiben?
Ich glaube, ich bin normaler als normal und bereits aus diesem Grund unnormal.
So normal, dass ich mein Hirn einschalte und nicht jeden Unsinn mitmache. Die nicht hinterfragende, unkritische Anpassung ist für mich eine Annäherung an die Abnormität.
Es ist abnorm, dem mainstream zu folgen und zu fressen, was uns vorgesetzt wird. Es ist abnorm, den Dingen nachzueifern, anstatt sich selbst zu begreifen und sich abzugrenzen. Und jetzt bezeichnet mich sicher jeder als abnorm, weil ich durch mein klares, gradliniges Verhalten so viele Chancen nicht genutzt habe. Was aber sind das für Chancen gewesen? Ein Verbiegen? Verlogenheit und Ungerechtigkeiten dulden? Scheuklappen vor den Augen und durch? Glück durch das Unglück anderer? Chancen, die keine echten Chancen sind, wenn man sich dabei selbst verleugnen oder geißeln muss und sie nur nutzt, weil die Mehrheit es auch tun würde? Ist es normal, dass ich alles hinter mir gelassen habe für die Liebe? Ein sicheres Leben inklusive Altersvorsorge? Sie haben mich für verrückt erklärt, die „Normalen“. Was ist also nun normal, Pierre – ich oder sie, die mich be- oder sogar verurteilen? Normal ist, sich selbst wahrzunehmen, zu hinterfragen, sich zu definieren, seinen Verstand einzuschalten und vor allem auch einzusetzen. Dafür haben wir ihn ja schließlich.

Was bedeutet heute abnorm zu sein? Ist das eine Art, sich abzuheben?
Wer bestimmt darüber, was abnorm ist?

Für einen Behinderten kann es völlig normal sein, eine eigene Wohnung zu besitzen und für die Nachbarin abnorm, dass wir aus Obstkernen monatelang mühsam Ableger züchten, die dann weniger Früchte tragen als gekaufte Pflanzen.
Normalität ist ein Begriff ohne wirkliche Definition. Es bedeutet „ohne Abweichung, angepasst, üblich, gewöhnlich, durchschnittlich“, doch wer/wo setzt die Skala an? Die Mehrheit ist es, die Mehrheit der Gesellschaft. Aber die ist einem ständigen Änderungsprozess unterzogen, variabel und instabil.

Kann man von sich behaupten, dass man normal ist oder nicht? Sollten es nicht andere tun?
Sich selbst zu begreifen und zu verstehen, sich zu akzeptieren und sich – als Teil der Gesellschaft, der Welt, der Kultur – einzubringen und etwas konstruktiv umzusetzen, das ist normal. Niemandem bewusst Schaden und Leid zufügen zu wollen und sich als einen Teil der Gesamtheit begreifen, das ist normal. Es ist nicht normal, sich hauptsächlich an anderen zu orientieren, an den Medien, an Idolen, an vorgegaukelten Idealvorstellungen oder auch – narzisstisch, egozentrisch – nur an sich selbst. Andere können und werden uns einschätzen, aber in dem Moment, in dem sie salopp in „normal“ oder „abnorm“ einteilen, kategorisieren sie banal und das ist in meinen Augen zwar leider normal, aber auch schon wieder abnorm. Welche Instanz wäre verantwortlich dafür? Wieder die Mehrheit, der Freundeskreis, der gegenwärtige emotionale, soziale Zustand? Nehmen wir den Szenegänger, den Sadomasochisten, den Swinger, den Borderliner, die Hure, den Mörder, den Psychopathen. Viele empfinden sich als durchaus normal, sind aber eine Gefahr, abnorm, krank. In diesem Falle urteilt die Gesellschaft zum Gemeinwohl, sofern es gefährdet ist. Hier gilt die gesellschaftliche Orientierung gewissermaßen als notwendige Kontrollinstanz und es ist legitim.

Wer normal ist, ist ein Spießbürger, so die Meinung von einer gewissen Schicht der Gesellschaft. Ist das nicht zu einseitig?
Normal im soziologischen Sinn ist das Selbstverständliche einer Gesellschaft, das nicht mehr erklärt werden und entschieden werden muss. So die Definition, die es eigentlich nicht geben kann. Was gesellschaftlich nur begrenzte Akzeptanz findet, ist abnorm? Es gibt eine statistische Norm, eine gesellschaftliche, eine individuelle und eine ideale Norm. An welcher Norm sollten wir uns nun orientieren? Der eine mag Gartenzwerge im Vorgarten und findet es normal, der andere geht Sonntags in die Kirche und findet das normal. Unserem Verstand sind keine Grenzen gesetzt und so neigen wir dazu, etwas einordnen zu können und das tun wir, indem wir es sortieren – in normal und abnormal, in gut und schlecht in schwarz und weiß. Das ist leichter, als offen und tolerant die Fähigkeiten, Eigenschaften, Vorlieben anderer Menschen zu verstehen, zu akzeptieren oder es zumindest zu versuchen. Mit Ausnahme der eindeutig – bereits genannten – krankhaften Abnormitäten, die ein gefährliches, schädliches Potential beinhalten.

Was bedeutet es heute, sich abzusetzen? Ist das überhaupt möglich?
Sich heute von der Mehrheit abzusetzen, bedeutet viel Mut, Ausdauer, Kreativität gute Nerven und es ist eine sehr große Kraftanstrengung. Überall sind Ecken und Kanten, ständig muss man sich erklären, obwohl das in unserer heutigen, aufgeklärten Zeit eigentlich nicht mehr nötig sein dürfte. Einerseits wollen wir unangepasste Querdenker, andererseits verurteilen wir sie mit den Worten „die haben doch ne Macke“. Entweder ist ein Mensch anders und setzt sich durch seine Persönlichkeit ab oder nicht. Sich das vorzunehmen, geht schlecht und wirkt nicht authentisch.

Aus meiner Sicht bin ich völlig normal. Ist das nicht langweilig? Oder ist es eine Art, sich in Frage zu stellen?
In der heutigen Zeit ist es schon unnormal, normal zu sein. Irgendwie sind wir in vielen Dingen normal, sitzen auf der Toilette, müssen essen, arbeiten, schlafen, lieben, weinen, lachen. Ganz normal. Eigentlich sind wir auch normal in der Suche unserer Identität und Abnormität. Ich denke, es sind verschiedenen Arten des Daseins und des Seins – jede Art und Weise ist eben verschieden interessant oder langweilig, akzeptiert oder diskriminiert. Doch das ist wiederum die Reflexion des Außen, das gerne kategorisieren möchte oder – sehr wichtig – den gemeinschaftlichen Frieden erhalten (da gilt es, der Abnormität entgegenzutreten).

Was hätte ich davon abnorm zu sein? Würde ich mich wohler in meiner Haut fühlen?
Ob sich jemand normal oder abnorm, wohler oder eher unwohl fühlt, ist für mich nicht klar zu beantworten. Nehmen wir uns den weit verbreiteten Narzissten, der sich durchaus wohl fühlt in seiner Haut und das Maß aller Dinge ist. Er ist – gesellschaftlich gesehen – abnorm, sieht sich selbst aber als normal und fühlt keinerlei Leidensdruck. Der klar denkende, gesunde, ethische Mensch (wie ich ihn nenne) wird reflektieren und sein Verhalten überprüfen. Sich bewusst abnorm zu verhalten oder nach außen hin so zu definieren, halte ich schon für bedenklich. Eigentlich sind wir alle abnorm in der Beurteilung und Kategorisierung einer Eigenschaft, die nicht lebenswirklich zu definieren ist, mit Ausnahme der Gefährdung des Allgemeinwohls oder des Weltfriedens.

Gibt es überhaupt normale Menschen?
Natürlich gibt es normale Menschen, ebenso wie abnorme. Doch werde ich pauschal kein Urteil darüber abgeben, was normal und unnormal ist. Ich kann es auch nicht, denn wir verändern unsere Werte, unsere Mode, unsere ganze Ethik. Was früher abnorm war, ist heute normal. Auch ich habe schon meine Meinung geändert und empfinde viele Dinge heute als normal, die ich früher verurteilt habe. Je näher ich an mir, an mir als Wahrnehmung meiner eigenen Person dran war, umso toleranter wurde ich und habe mir Normalität und Abnormität mit anderen Augen angesehen. Und wie ich schon sagte: was für mich normal ist, kann für mein Gegenüber abnorm sein und andersrum. Die Gesellschaft kreierte einen Begriff, den sie selbst nicht begreifen kann und genau definieren schon gar nicht.

Wünscht man sich als Eltern unkonventionelle Kinder?
Angepasste, kleine Mundhalter, die nur den Finger in die Höhe strecken, wenn sie gefragt werden und niemals ihre Grenzen ausloten, niemals Unsinn machen, nicht über die Strenge schlagen, sich nicht gegen die Normen stemmen, artig und brav aufessen, was ihnen vorgesetzt wird, das wünsche ich niemandem. Das wäre zwar das Idealbild der Lehrer und einiger Eltern, nicht aber meines und eine echte Strafe für aufgeklärte, klug denkende Menschen. Kinder müssen sich ausprobieren, sie müssen das Leben austesten und ihre Fähigkeiten entdecken. Ist der Begriff „unkonventionell“ nicht schon wieder ein artig sortierter Schubladenbegriff? Man sollte sich Kinder genauso wünschen wie sie sind, schließlich betreiben wir keine Zuchtstationen und somit von vorneherein eine Selektion in „normal“ und „abnorm“. Gut so! Wir würden dies nämlich auch gar nicht mehr differenzieren oder messen können, denn ein „normal“ kann es nur geben, wenn ein “abnorm“ dagegen steht, überhaupt eine Vielfalt und Gegensätze da sind. Sonst wär´ s ein ganz schöner Einerlei-Einheitsbrei, oder nicht?
© Petra M. Jansen

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