SATT STATT STARK

SATT STATT STARK Sozialkritik & Dekadenztexte

Sozial- und gesellschaftskritische Essays, eine zeitkritische Auseinandersetzung mit dem Appell an Reaktivierung von Herz und Verstand. I ...

Mittwoch, 8. Juli 2015

Internetjunkies


„People“ Gesellschaft & Leute
Fragen an Petra, „Internetjunkies“, Interview mit Petra M. Jansen, geführt von dem BR-/ARTE-Regisseur und Journalisten Pierre Mathias


Du Petra, ich kam mehr als 30 Jahren ohne Handy, ohne Internet, ohne e-Mail aus. Wie kommt es, dass ich noch lebe?

Für die heutige Generation ist es nicht mehr vorstellbar, ohne diese Kommunikationsmedien auszukommen. Ich frage mich auch, ob die Welt zusammenbräche, wenn wir wieder - wie früher - ein ganz normales Telefon hätten oder den Postweg. Wir würden wohl nicht mehr über „zu wenig Zeit“ klagen und es entstünde ein riesengroßes Loch, fast eine Wunde, die ausblutet oder nie mehr verheilt. Unvorstellbar und beängstigend, wie abhängig wir davon geworden sind und doch können auch wir hier nur schreiben, weil es das Internet gibt.


Wie kann man sich mit dem Internet volllaufen lassen? Bekommt man dabei einen Kick?

Ich persönlich pflege einen nahezu rein beruflich orientierten Kontakt zum Internet oder es dient mir als kurzweilige Informationsquelle. Diese Vielfalt an Informationen und Daten standen uns noch nie zur Verfügung und wir sollten dies sinnvoll und konstruktiv nutzen. Das Internet vernetzt die Welt und sollte sie gleichzeitig auch entsetzen.
Frank Schirrmacher sagte einmal „ich befürchte, dass unser Gedächtnis bei Google lagert. Wir verändern unser gesamtes Denken und merken uns die konkreten Dinge nicht mehr“. Er hat so Recht damit, Google kennt und weiß alles, wir aber haben das Merken und Auswendigkönnen verlernt. Aber selbst, wenn wir Kochrezepte in unserem Kopf haben, können wir noch lange kein schmackhaftes Menue zubereiten. Der Kick wird eines Tages der sein, dass wir unseren Wissensstand ausgelagert haben und Suchmaschinen unser Wissen sammeln und abspeichern. Fragen wir dann gezielt in die Runde, bekämen wir die Antwort „das müsste ich mal googeln, das hab ich irgendwo gelesen.“ Der Kick geht ins Aus, Pierre.


Besteht bei Internet nicht die Gefahr, dass man selbst virtuell wird? "Hallo, gibt es mich noch?" Ich muss deinen Server fragen!"

Das Problem ist die exzessive Nutzung des Internets und auch der I Phones mit z.T. permanentem Internetzugang. Ich kenne junge Leute, die sind 24/7 online, also rund um die Uhr und sie holen sich dort ihre Aufmerksamkeit, ihre Anerkennung, teilen den größten Blödsinn mit oder setzen Bilder und Aussagen ins Netz, die dort nicht hingehören. Virtuell kann sich jeder darstellen wie er möchte, sich einen anderen Namen oder eine andere Identität geben. Und genau das ist die Gefahr! Die Virtualität wird auf die Realität übertragen und sie bilden sich ein, einen großen Freundeskreis zu haben, nur weil sie im Netz mit zahlreichen Freunden chatten oder interagieren. Tatsache ist: wenn sie den Knopf drücken und sich umschauen, sind sie wieder alleine, meistens verdammt alleine...

  
Wenn das Internet streikt, ab in das Waisenhaus! Ist das nicht doof?

Ich hatte vor einiger Zeit eine Störung und Ausfall meines Internets und verfüge weder über einen Laptop noch ein internetfähiges Handy. Einzig und alleine das Posten meiner Kolumne hier war Grund, dass ich einen anderen Ort aufsuchte, um sie von dort aus einstellen zu können. Ich habe es nicht vermisst und hätte tagelang offline bleiben können. Meine Welt geht nicht unter, wenn ich einmal nicht die Selbstdarstellungen anderen Menschen lesen muss, es langweilt mich eher und ich habe mich als Privatperson im Netz zurückgezogen. Meine erste, einzige und letzte private Erfahrung im Internet war eine glatte Bauchladung und ich bin mache den gleichen Fehler nicht zweimal. Ich nutze das Internet im Wesentlichen rein beruflich. Es ist für mich ein Kommunikationsmedium, das uns hilft, unsere Arbeit schneller von einem Ort zum anderen zu übermitteln, z.B. (bei mir) als Dokumente oder PDF-Dateien, ggf. mal ein Foto oder weiterführende links zu Veröffentlichungen. Wenn ich unter Vertrag stehe und meine Texte abliefern muss, stehe ich schon ein wenig unter Druck und muss eine Ausweichmöglichkeit finden. Das betrifft aber ausschließlich meine Arbeit und für mein privates Leben brauche ich kein Internet. Für viele andere aber würde eine Welt zusammenbrechen und sie wären tatsächlich auf Entzug.


 Ist nicht die nächste Etappe der virtuelle Fick? Ganz schön erotisch!

Unerotischer geht es ja wohl nicht mehr, Pierre. Die virtuelle Welt lässt Filme entstehen, Wünsche und Vorstellungen, die nicht realistisch sind. Menschen aus dem Katalog, Menschen als Ware, Menschen als Verschleißartikel. Ich kannte einen Mann, der sein ganzes Leben mit dem Internet teilte. Musik immer auf dem neuesten Stand illegal runtergeladen, auf zahlreichen communities angemeldet, präzise Partnersuche über das Internet, Informationssuche durch Google, er beendete sogar seine Beziehung virtuell. Was soll ich sagen, Pierre? Er hatte nicht einmal den Mumm dies real zu tun, eine arme Sau halt. Der virtuelle Fick ist genauso wenig befriedigend wie per e-Mail verschickte Masturbationsvideos. Welcher normale Mensch würde sich solch einen Rotz antun? Ficken in der virtuellen Welt ist was für Voyeure oder Exhibitionisten. Noch müssen sie schon hinter ihrem Bildschirm rauskriechen, wenn sie sich trauen - aber wenigstens ist Cybersex nicht ansteckend.

 
Wie sollte ein Liebeserklärung für das Internet formuliert werden? "Wie wäre es mit einem Zungenkuss?"

Es gibt nur eine Liebeserklärung, die man im Internet von sich geben könnte: mein reales Leben ist mir so lieb, dass ich sie um Verständnis bitte, wenn ich weitestgehend offline bleibe. Die Liebe zu sich selbst, die Liebe zu seinem Leben, die Liebe zu der Realität um uns herum, die schöner ist als jede Sekunde, die man am PC verbringt. Die einzige Ausnahme mache ich bei einer beruflichen Nutzung.

Als reines Privatvergnügen ist es für mich untauglich, da gibt es Besseres.

  
Was nun, wenn Internet impotent wird? Her mit dem Viagra!

Es sind Suchtjunkies unterwegs, jede Menge! Junge Menschen haben keine Grenzen und können nicht wirklich einschätzen, was mit ihnen auf Dauer passiert. Es ist wie mit allen Drogen - in Maßen und mit Vernunft konsumiert und rechtzeitig die Bremse gezogen - werden sie eine Erfahrung sein. Wird diese Bremse nicht gezogen, bringt sie dich um (den Verstand). Dann heißt es „her mit dem Stoff!“
Das Schlechteste wäre es nicht, einmal ganz ohne Internet zu sein. Es ging ja früher auch und wir hatten tatsächlich mehr Zeit als in einem Zeitalter, in dem nichts so schnell um den Erdball verbreitet wird, wie heute.

 
Auf der Straße, nur noch Doofies, die mit dem I Phone hantieren. Haben sie somit die Gewissheit, dass sie noch leben?

Das konnte ich vor einiger Zeit an einer Bushaltestelle beobachten, Pierre. Es saßen vier Jugendliche nebeneinander, sprachen kein Wort und jeder war mit Herumgetippe in sein I Phone beschäftigt. Ich frage mich, wozu sie sich eigentlich getroffen haben. Mir gibt auch eine junge Kollegin zu denken, die Tag und Nacht online ist, während der Arbeitszeit ständig ihre communities kontrolliert oder Fotos von sich selbst schießt, diese sofort bearbeitet und ins Netz stellt. Ob die Nacht mit ihrem Freund nun gut oder Mist war, das können wir alle gleich mitlesen. Sie ist ständig unzufrieden, pudert sich den ganzen Tag die Nase, zieht den Lippenstift nach und ist eine total verunsicherte, dumme Person. Ein Buch hätte sie schlauer gemacht.

 
Gibt mir das Internet die notwendigen Streicheleinheiten?

Mir nicht! Natürlich freue ich mich über eine positive Resonanz auf meine Veröffentlichungen und den Austausch mit anderen Autoren, auch über den hier neu entstehenden interaktiven Fortsetzungsroman, aber meine Streicheleinheiten die will ich lieber persönlich entgegennehmen - Auge in Auge und Hand in Hand.

  
Dank Internet sind Mann und Weib total überflüssig! Wenn es so ist, soll es Kinder gebären! Aseptisch und hygienisch, nicht wahr Petra?

Eine schreckliche Vorstellung, hat den Touch eines Science Fiction Gruselthrillers.
Im Internet werden Männlein zu Weiblein und blond zu schwarz, es ist geduldig und spielt mit. Der arbeitslose Quartalssäufer ist ein Held, die verlogene Psychotante ist gerade noch am Krebs vorbeigezischt, die fette Ruhrpotthausmutter sucht vehement in den Internetgruppen und –foren ihren Lover. Wenn d i e sich vermehren könnten, Pierre, wären wir bald ausgerottet, denn da stimmt ja nichts mehr. Nicht einmal mehr der Verstand bleibt am Leben – das übernimmt Google (übrigens hygienisch sauber kalkuliert)! Und die Verordnung von „ganz oben“, die so zuckersüß lächelt wie Mr. Zuckerberg & Co., sich an soviel Idiotie und Lammgehabe erfreuen und in die Hände spucken können. An uns ist das reale Leben derweil vorbeigezogen, macht aber nichts - schließlich können wir ja noch mit 80 chatten.




© Petra M. Jansen






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